Melinda Nadj Abonji
Die Leerstelle sagt oft mehr als das Gesagte, Geschriebene; in den Antworten der Behörden auf unsere Frage, wie sie unsere Kinder zu schützen gedenken, fällt auf, dass die Frage der Verantwortung vollkommen ausgeklammert ist. Die Behörden wollen nicht über Verantwortung reden – für uns Eltern stellt sich die Frage unausweichlich: Wer hat die Pflicht, wen zu schützen und mit welchen Mitteln?
Verantwortung verstehen wir als ethisches Prinzip, das bereits vor jedem Handeln zum Tragen kommt; sie kann nie nur das Eigene bedeuten, sondern ist immer ein Antworten auf ein Fragen, ein Dialog zwischen dem Ich und dem Anderen, den Mitmenschen; das Ich ist ohne den Anderen nicht möglich und wir sind betroffen und abhängig von den Entscheidungen und Handlungen anderer – oder wie der Autor Wallace Stegner treffend schrieb: we are all each other’s consequences.
Unsere Kinder nach bestem Wissen und Gewissen nicht nur im privaten, sondern auch im sozialen Bereich zu schützen, erachten wir als unsere moralische Pflicht; dieser Sorge- und Schutzpflicht verleihen wir Ausdruck, indem wir als Eltern, Bürgerinnen und Bürger die vorbeugenden Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie mittragen und uns dafür einsetzen, dass ein möglichst umfassender Schutz auch an den Schulen umgesetzt wird. Auf gesetzlicher Ebene hält das Epidemiengesetz fest, worum es im Fall einer Gesundheitskrise geht, nämlich «den Schutz des Menschen vor übertragbaren Krankheiten zu regeln» und die dazu «nötigen Massnahmen» vorzusehen (Artikel 1) und «den Ausbruch und die Verbreitung übertragbarer Krankheiten zu verhüten und zu bekämpfen» (Artikel 2).
Schutz erschöpft sich nicht in medizinischen Massnahmen (wie Hygieneregeln, Maskenpflicht, Impfungen), juristischen Fragen oder ökonomischen Hilfeleistungen, sondern ist zentral mit der Verantwortung verbunden – was zu oft vergessen geht. Wir Stärkeren, Älteren (Eltern) haben die Pflicht, die Schwächeren zu schützen, ein ethischer Grundsatz, der auch in der Präambel der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft ausformuliert ist. Der Artikel 11 der Bundesverfassung hält den Anspruch der Kinder und Jugendlichen auf «besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit» fest.
Schutz ist nicht teilbar; entweder man schützt jemanden nach bestem Wissen und Gewissen oder man tut es nicht. Aus den Aussagen der Behörden lesen wir, dass sie ihre Verantwortung nicht wahrnehmen, die wir ihnen als Bürgerinnen und Bürger übertragen haben. Während einer Pandemie schützend zu handeln bedeutet, die Gesundheit als höchstes Gut anzuerkennen und zu deren Schutz rasch und präventiv zu handeln. Das Testregime der Behörden zeigt, dass sie das Gegenteil tut: Getestet werden die Kinder erst nach einem Ausbruch, wenn also bereits Kinder erkrankt sind. Die Verantwortlichen reagieren, statt zu agieren. Aber Regieren bedeutet kluges und vorausschauendes Handeln. Für ein Testobligatorium bestehe nur dann eine rechtliche Grundlage, wenn eine «unmittelbare epidemiologische Notwendigkeit» bestehe.
Wann, wenn nicht während einer Epidemie, ist eine «unmittelbare epidemiologische Notwendigkeit» gegeben?
Schützend und verantwortungsvoll zu handeln hiesse, alle vorbeugenden Massnahmen zu ergreifen, die bis anhin bekannt und wissenschaftlich geprüft sind: präventives, repetitives Testen, CO2-Messgeräte, Luftfilter, regelmässiges Lüften, Maskenpflicht (wir haben sie in unseren Schreiben zusammengefasst; siehe dazu auch den exzellenten Artikel, der kürzlich in «Swiss Medical Weekly» erschienen ist).
Statt am strategischen Ziel des Gesundheitsschutzes von uns allen mitzuarbeiten – wir wissen seit Langem, dass Kinder auch ansteckend sind – statt alles daran zu setzen, dass das Gesundheitssystem nicht kollabiert, gaukeln die politischen Entscheidungsträger vor, dass ein bisschen Massnahmen ergreifen ausreicht; die Verantwortlichen schieben so ihre Verantwortung ab und sind offenbar bereit, Opfer in Kauf zu nehmen, unsere Kinder dem Virus zu opfern. Obwohl behauptet wird, dass unsere Kinder nicht durchseucht werden sollen, ist das Gegenteil wahr, da sie nicht bestmöglich geschützt werden. Der Hinweis, dass nur wenige Kinder schwer krank werden oder sterben, ist zynisch und amoralisch. Jedes Kind, das erkrankt, ist eines zu viel. Jedes Kind, das stirbt, hätte nicht sterben müssen.
Auch die Tatsache, auf die seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinweisen, dass wir immer noch zu wenig über das Virus wissen, müsste die Behörden zu maximaler Vorsicht ermahnen. Oder anders gesagt: das Nicht-Wissen sollte bezüglich Schutzmassnahmen ebenso handlungsanleitend sein; denn gemäss dem Nicht-Wissen zu handeln bedeutet, Vorsicht walten zu lassen, also maximal zu schützen, um den Schaden (zukünftig) minimal zu halten, und das bedeutet verantwortungsvoll zu handeln.
Einmal mehr bleibt der Schutz der Gesundheit in der Schweiz ein Lippenbekenntnis mit (vorhersehbaren) grausamen Konsequenzen. Letzten Herbst wurden Tausende von betagten Menschen geopfert und zu viele politische Entscheidungsträger antworteten darauf mit einer Rhetorik der Härte und Mitleidlosigkeit – das Leben der Betagten war offensichtlich nicht gleich schützenswert wie das Leben jüngerer Menschen; was für ein erschreckendes «moralisches» Zeugnis, welches an das Gedankengut der Eugenik erinnerte.
Diesen Herbst stellt sich nun die Frage, warum so sträflich wenig getan wird, um unsere Kinder zu schützen, obwohl die Mittel und das Geld ausreichend vorhanden wären. Auch wenn sie nicht in der gleichen Weise wie ältere Menschen vom Virus bedroht sind: Reicht es nicht, dass sich unzählige Kinder infizieren, an Long Covid oder PIMS leiden werden? Müssen wir uns mit der bangen Hoffnung begnügen, dass in den kommenden Wochen nicht allzu viele Kinder sterben? Eines wissen wir schon jetzt: Es wäre möglich, das Leid zu begrenzen, wenn die Behörden nicht in mehrfacher Hinsicht versagen würden: medizinisch-wissenschaftlich – indem sie wirksame Massnahmen ungenügend anwenden; juristisch – indem sie die Verfassung und das Epidemiengesetz missachten; politisch – indem sie ihre Verantwortung abschieben; und alles bündelt sich zu einem moralischen Versagen, das uns alle noch lange beschäftigen wird.
Wer wird für das vermeidbare Leid die Verantwortung tragen?
Die gegenwärtige Krise stellt uns in Frage, stellt an uns die Frage: Wer sind wir? In welcher Gesellschaft wollen wir leben? Wie sieht unser Zusammenleben aus? Wollen wir in einer Gesellschaft leben, die die Verletzlichsten schützt, in der wir füreinander Sorge tragen? Oder kümmern wir uns nur um uns selbst und folgen dem Motto, dass der Stärkere überlebt? Ja, die Krise bringt die verschüttete Tatsache zum Vorschein, dass wir in unterschiedlichen moralischen Wirklichkeiten leben, die sich gegenseitig ausschliessen. Darüber sollten wir nicht länger schweigen.